"Menschen wollen überzeugt werden; Anordnen funktioniert nicht." Eindrücke eines Besuchs bei codecentric

Es werde um New Work gehen, stand in der Einladung zur Veranstaltung der Bergischen IHK am 01.07.2019. Ich fühlte mich angesprochen - wenn auch mit Zweifeln, was es denn an wirklich guten Beispielen im Bergischen Land so geben könne. Mal abgesehen davon, dass "New Work" manchmal das neue Wort für "Employer Branding" zu sein scheint.

Ich erwartete also nicht wirklich (Asche auf mein Haupt!), ein selbstorganisiertes Unternehmen kennenzulernen - und war umso positiver überrascht. Lesen Sie hier über meine Eindrücke, verbunden mit der Empfehlung sich bei Gelegenheit einmal selbst einen Einblick zu verschaffen. Ganz nach dem Motto: Gutes muss verbreitet werden!

(Und Achtung: Dies ist ein langer Artikel, denn es gibt viel Gutes zu berichten.)

codecentric ist ein Software-Unternehmen, das für in Deutschland ansässige Unternehmenskunden Individualsoftware nach deren spezifischen Anforderungen erstellt. Es wurde 2005 gegründet und wuchs auf inzwischen ca. 580 Mitarbeitende an.So wurden allen im letzten Jahr ca. 90 neue Mitarbeitende eingestellt; das Unternehmen konnte dafür aus rund 1000 Bewerbungen auswählen. Im selben Zeitraum verließen ca. 20 Mitarbeitende das Unternehmen; etliche wechselten zu Spin-Offs von codecentric, einige machten sich selbständig, andere gingen zu Unternehmen, die Standardprodukte entwickeln. Der Hauptsitz ist im Gründungsort Solingen; inzwischen hat das Unternehmen auch etliche weitere Standorte in Deutschland sowie Niederlassungen in Serbien und Bosnien, die alle für den deutschen Markt arbeiten.

Nach einer kurzen Präsentation über New Work zum Einstieg führen uns also der Standortleiter für Solingen, Lars Rückemann, und der Vorstand Uli Kühn durch das Gebäude. Empfang und Präsentation fanden im Plenumsraum gleich am Eingang statt; er ist hell und offen über Glasfenster und -türen mit den angrenzenden (Büro-) Räumen verbunden. Im Plenum fänden freitags auch immer wieder Mitarbeitendenversammlungen statt, bei denen Mitarbeitende sich gegenseitig ihre Ideen, Projekte und Themen zur Information vorstellten, Vorträge hielten und damit Wissen teilten sowie Feedback und die Expertise von Kollegen einbänden.

Gleich daneben befindet sich die Küche - der einzige Ort im Gebäude, wo Getränke und Essen zu finden sind. Dies sei beabsichtigt: Und zwar, damit dies auch DER Ort sei, wo sich Mitarbeitende immer wieder, wenn auch zufällig begegnen und austauschen würden. Es wären dabei schon tolle Ideen entstanden und so manches Problem "on the go" gelöst worden. Jede/r Mitarbeitende sei ohnehin 20% seiner Zeit freigestellt für Weiterbildung, Experimente und die Entwicklung eigener Ideen. Es gebe ein Accelerator-Programm, aus dem Mitarbeitende Budget für Innovationen erhalten könnten - mit dem Ziel, neue Produkte zu entwickeln und ggf. auch in einer Ausgründung mit externen Investoren weiterzuverfolgen. So sichere codecentric den eigenen Anspruch auf Innovation und Weiterentwicklung.

Auch die Büro- und Besprechungsräume, die wir anschließend kennenlernen, sind offen und flexibel gestaltet, damit Teams projekt- und bedarfsbezogen immer wieder - wortwörtlich - neu zusammengesetzt werden können: Schreibtischinseln in größeren, schalloptimierten Räumen, doch neben diversen kleinen und größeren Rückzugs- und Besprechungsräumen. Tische im Open Space sind ergonomisch höhenverstellbar. Damit Kunden und Mitarbeitende an anderen Standorten (auch: im Home Office) einbezogen werden können, sind alle Besprechungsräume mit passender Video- und Audio-Technologie ausgestattet. Alle Standorte seien technisch und im Look-and-Feel identisch ausgestattet. Auch der Vorstand sitzt im selben Open Space wie die Mitarbeitenden. Die Maße des Gebäudes - war es die Höhe? - weichen von den üblichen Architektenstandardmaßen ab; so habe man das für codecentric optimale Büro-Design realisieren können. Und man messe aktuell die Nutzung der Rückzugs- und Besprechungsräume, damit man deren Zahl ggf. bei künftigen Baumaßnahmen optimieren könne. An einer Stelle entdecke ich ein Hundekörbchen. Das WLAN deckt auch den Außenbereich um das Gebäude ab, damit Mitarbeitende beim aktuell schönen Wetter auch auf der Terrasse und im Garten arbeiten können.

Ach ja, die technische Ausstattung dürfe jede/r Mitarbeitende natürlich selbst bestimmen, damit er/sie gut arbeiten könne. Auch bei Literatur, Dienstreisen, Weiterbildungen, Urlaubsabsprachen, Hotelbuchungen etc. gebe man den Mitarbeitern völlig freie Hand: Jede/r Mitarbeitende müsse allerdings selbstverantwortlich seine/ihre Entscheidungen den Kollegen gegenüber vertreten oder Absprachen im Team treffen. Und die Führungskräfte gingen eben auch mit gutem Beispiel voran.

Mit Schmunzeln erzählt Uli Kühn dazu eine Anekdote: Man habe einmal einen neuen Mitarbeiter wie üblich gebeten, seine Wünsche an die technische Ausstattung zu nennen. Im Vertrauen darauf, dass Streichungen sowieso erfolgen würden, habe dieser eine sehr lange Liste seiner Traumausstattung eingereicht. Als ihm diese tatsächlich zum Einstieg bereitgestellt wurde, sei er total verblüfft und auch sehr beschämt gewesen. "Unsere Erfahrung zeigt, dass wir nicht regulieren müssen, sondern dass die Steuerung durch die Teamprozesse von alleine erfolgt." Er gesteht allerdings auch, dass es schon oft eine Herausforderung sei, sich als Führungskraft zurückzuhalten und auszuhalten, dass Mitarbeitende oder Teams etwas anders machten, als er das angehen würde. Und dass die Eingewöhnung neuer Mitarbeiter an die codecentric-Kultur eine Lernerfahrung bedeute.

Anstelle von Werbung für codecentric setze man auch darauf, dass die Mitarbeiter in Fachzeitschriften, bei Vorträgen in Konferenzen und in der eigenen kostenfreien Kundenzeitschrift Beiträge leisteten und dass sich damit die Expertise und Erfolg des Unternehmens herumsprechen. Das sei bisher weitgehend gelungen; Kaltakquise sei  nicht nötig. Vielmehr erhalte codecentric immer wieder Kundenanfragen, sogar etliche über das Kontaktformular der eigenen Webseite. Ja, man setze diverse Methoden ein, so auch beispielsweise Scrum, doch man passe Methodik und Vorgehen auch situativ den jeweiligen Erfordernissen an.

Auch bei der Rekrutierung übernehmen die Mitarbeiter Mitverantwortung; nach einer Vorselektion durch die HR-Kollegen werden Mitarbeiter mit ähnlichen Rollen und aus den Teams, in denen ein Bewerber eingesetzt werden soll, in mehreren Interviewrunden involviert. Neben der fachlichen Qualifikation sei vor allem die Passung des Bewerbers hinsichtlich Persönlichkeit und Arbeitsweise wesentlich für die Auswahlentscheidung. An einer Stelle sei man jedoch vorsichtig: Man pflege keine Gehaltstransparenz im Unternehmen. Gehaltsstrukturen seien bei einer Unternehmenshistorie von fast 15 Jahren und auch angesichts des Fachkräftemarktes nun einmal gewachsen und bei allem Bemühen nicht immer einheitlich.

Die Frage, ob es in einer so teamorientierten Umgebung nicht auch viele Konflikte gäbe, wird mit einem klaren "Ja" beantwortet; der Verweise darauf, dass man die Teams ggf. auch durch Vermittler, Mediatoren und Coaches unterstütze oder auch schon einmal die Teamzusammensetzung verändere, zeigt, dass Konflikte dazugehören und ernstgenommen werden.

Ich stelle die Frage, wie denn der Selbstausbeutung von Mitarbeitern vorgebeugt werde. Ein Mitarbeitender ergreift das Wort und belegt anhand einer selbsterlebten Anekdote, dass es trotz allem nicht nur um Leistung, sondern um persönliche Wertschätzung und ein gutes Miteinander im Team und im Unternehmen gehe. Auch bestünden keine Barrieren; jeder könne auf jeden anderen Menschen im Unternehmen zugehen, Themen adressieren und Rat einholen.

Nun habe ich bisher weitgehend greifbare Merkmale der Kultur bei codecentric beschrieben. Schöne und funktionale Architektur gibt es öfters mal. Von großzügigen HR-Policies hört man in Zeiten des Fachkräftemangels auch immer wieder. Das, was mich bei codecentric allerdings im Gesamteindruck überzeugte, waren die Stimmigkeit der Botschaften, mit der immer wieder von Seiten der Gastgeber auf die Selbst- und Mitverantwortung der Mitarbeitenden und auf die Steuerungskraft der Teams verwiesen wurden.

Nicht nur Führungskräfte führten uns durch das Gebäude; mehrere Mitarbeitende nahmen teil und bestätigten - durch Worte und v.a. in ihrem Habitus im Umgang mit uns und besagten Führungskräften -, was uns berichtet wurde.

Architektur, Methoden, Policies, Praktiken etc. wurden allerdings konsequent daran ausgerichtet, den für die Arbeit und eigenen Anspruch erforderlichen Spirit zu  unterstützen. Inspirierende Räume der Begegnung, Freiräume und zugleich ein Rahmen des Respekts und Miteinanders wurden geschaffen, damit Selbststeuerung glaubwürdig möglich ist. Damit wirkte alles auf mich "fit for purpose". Es wurde auch mehrfach anerkannt, dass das Unternehmen - im Gegensatz zu manch anderem Unternehmen - keine Transformation durchlaufen musste, sondern dass sich die gelebte Agilität und Kultur seit Gründung und im Laufe der Jahre hatte entwickeln können.

An einer Stelle fiel dann auch der folgende Satz, den ich gerne auch in anderen Unternehmen öfter hören würde:

"Hier werden Dinge dann aber auch gelebt und nicht nur gemacht, weil es der Chef gesagt hat."

Überzeugen Sie sich doch selbst einmal vor Ort; codecentric lädt immer wieder zu verschiedenen Veranstaltungen ein. Es lohnt sich!


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